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Russland im „perfekten Sturm"

Foto: OAOEV
01.04.2020
OAOEV-Arbeitskreis Russland analysiert Auswirkungen der Corona-Krise

Am 1. April 2020 traf sich der Arbeitskreis Russland des Ost-Ausschuss – Osteuropavereins zu einer Videokonferenz, um mit Vertretern des Auswärtigen Amtes und der Auslandshandelskammer Moskau insbesondere die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Russland zu analysieren. Russland, so zeigte sich, ist gegenwärtig einem dreifachen Schock aus Corona-Krise, Ölpreisabsturz und Rubelverfall ausgesetzt, hat aber ausreichende finanzielle Mittel um einen Wirtschaftseinbruch abzufedern.

Zu Beginn berichtete Arbeitskreissprecher Mario Mehren (CEO Wintershall Dea) den 70 Teilnehmer von seiner Moskau-Reise im Februar, bei der er unter anderem mit dem russischen Industrieminister Denis Manturow einen engen Austausch über die Kriterien zur Lokalisierung von Produktion in Russland verabredet hatte. Außerdem bewertete Mehren die aktuellen Turbulenzen auf dem Ölmarkt. Allein in China sei der Rohölbedarf zu Jahresbeginn Corona-bedingt um teilweise 40 Prozent zurückgegangen, gleichzeitig hätten Russland und Saudi-Arabien ihre Förderung im Kampf um Marktanteile und zur Verdrängung der US-Schieferölindustrie erhöht. Als Folge seien die Preise pro Barrel auf knapp über 20 US-Dollar gefallen. Weitere Preisrückgänge seien wahrscheinlich, da die weltweiten Ölspeicher die Mengen nicht mehr aufnehmen könnten.

Große Herausforderung für den Multilateralismus

Tobias Tunkel, Leiter des Referats für Russland, Belarus, Moldau und Östliche Partnerschaft im Auswärtigen Amt, wies in seinem Referat auf die große Herausforderung für den Multilateralismus durch die Corona-Krise hin. Noch sei nicht klar, ob Corona die Weltgemeinschaft weiter spalte, oder doch die Kooperation befördere. China und Russland versuchten sich in der Krise als die überlegeneren Gesellschaftsmodelle zu positionieren. Russlands Präsident Wladimir Putin habe die Sehnsucht nach Stabilität in Krisenzeiten nutzen können, um eine Verfassungsreform umzusetzen, die es ihm voraussichtlich erlaube, noch bis 2036 an der Macht zu bleiben und die Leitgedanken der Verfassung von 1993 zu überwinden. Die humanitäre Krise schränke zudem die Möglichkeiten weiter ein, im Friedensprozess in der Ostukraine voranzukommen. Der für April geplante Gipfel im Normandie-Format sei vertragt worden. Es werde zunehmend schwer, die humanitäre Situation im Donbass zu verbessern. Im Hinblick auf weitere Sanktionsvorhaben der USA gegen Russland sieht Tunkel aktuell eine gewisse Entspannung. Bestehende Sanktionsgesetze würden im US-Kongress derzeit nicht weiterverfolgt.

OAOEV-Geschäftsführer Michael Harms sprach mit Blick auf die Corona-Krise von einem „perfekten Sturm“ für Russland, der gleichzeitig zu einem Rückgang des Ölpreises, einer Abwertung des Rubel und einem Einbruch des Konsums geführt habe. All dies belaste auch die deutschen Unternehmen vor Ort. Die bisherigen Krisenmaßnahmen der russischen Regierung hält Harms für zu wenig ambitioniert. Da müsse dringend nachgebessert werden. Inzwischen sei auch die Finanzierung der nationalen Projekte in Gefahr, mit Ausnahme des Gesundheitssektors und der weiteren Digitalisierung. Für diese ergäben sich in der Krise große, neue Chancen, an denen auch deutsche Unternehmen partizipieren könnten.

Matthias Schepp, Vorsitzender des Vorstands der deutsch-russischen Auslandshandelskammer, beschrieb anschließend die Folgen der Corona-Krise aus Moskauer Perspektive. Trotz der Wirtschaftsturbulenzen sei Russland aufgrund der konservativen Haushaltsplanung und der vorausschauenden Politik der Zentralbank sehr stabil. Die Währungsreserven befänden sich mit 531 Milliarden US-Dollar nahe an einem Allzeithoch. Zu diesem „dicken Polster“ gehöre auch der Nationale Wohlstandsfonds mit aktuell rund 160 Milliarden US-Dollar. Diese positive Einschätzung wurde von Jörg Bongartz, Regionalchef für Mittel- und Osteuropa der Deutschen Bank, bestätigt. Die russischen Großbanken seien generell sehr gut kapitalisiert und die Zentralbank habe bereits in der Bankenkrise 2008/9 bereits bewiesen, dass sie im Falle von Problemen schnell reagieren könne.

Chancen für den Export

Chancen bedeutet der Rubel-Verfall nach Ansicht von Matthias Schepp für Exporteure. So könnten etwa die Branchen Stahl und Dünger profitieren, umgekehrt würden Importprodukte teurer, wovon die Billiganbieter aus Fernost weiter profitieren könnten. Die Corona-Maßnahmen der russischen Regierung sah Schepp skeptisch. Die Maßnahmen würden mehr oder weniger auf dem Rücken der Wirtschaft und insbesondere des kleinen Mittelstands ausgetragen. Diesen helfe auch ein sechsmonatiges Moratorium für Kredite und Steuer-Zahlungen nur wenig. Die Verfassungsänderung werde in Russland durchaus kontrovers diskutiert. Änderungen seien keine mehr zu erwarten, aber mittelfristig könne die Unzufriedenheit vor allem des Mittelstands zu einer Herausforderung für Stabilität des Systems werden. In der Corona-Krise erlebe die AHK eine „riesige Welle von Unternehmensanfragen“. Hauptsächlich ginge es für die Firmen darum, auf die staatliche Liste der systemrelevanten Unternehmen zu kommen. Dies sei für die Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs nicht selten entscheidend.

Anschließend informierte Ulf Schneider, Präsident der Schneider Group, zusammen mit seinen Mitarbeitern über rechtliche Aspekte der russischen Corona-Maßnahmen. Für größere Verwirrung habe hier die Ankündigung Präsident Putins geführt, eine arbeitsfreie Woche einzuführen. Diese Ankündigung sei kurz darauf durch den Präsidentensprecher Dmitri Peskow relativiert worden. Es gehe eher darum, von zu Hause aus weiterzuarbeiten. Rechtlich sei eine arbeitsfreie Woche auch gar nicht vorgesehen, so Schneider. Insgesamt hätten sich viele Arbeitnehmer zu freiwilliger Heimarbeit bereiterklärt. In den Fällen, in denen dies nicht möglich sei, werde aber das Gehalt zunächst normal weitergezahlt. Perspektivisch versuchten die Unternehmen, die Arbeitszeit und das Gehalt einvernehmlich mit den Mitarbeitern zu verkürzen. Zwangsurlaub dürfe hingegen nicht angeordnet werden. Auch zum Thema Visa habe es widersprüchliche Informationen gegeben. Inzwischen sei klar, dass nur Neuanträge nicht mehr bearbeitet würden. Die Visa der sich im Land befindlichen Westeuropäer würden verlängert.

Klarer sehe man inzwischen auch beim Umgang der russischen Arbitrage-Gerichte mit Vertragsverfahren mit Bezug zur Corona-Krise. Vordergründig sei Corona ein klassischer Fall für eine Force-Majeur-Klausel. Allerdings müsse man sich bei jedem Vertrag sehr genau ansehen, ob eine Berufung auf höhere Gewalt wirklich zur Anwendung kommen könne und welche Verpflichtungen ein Vertragspartner konkret hatte. Grundsätzlich müsse immer die Frage gestellt werden, ob Schwierigkeiten mit der Erfüllung von Aufträgen bereits bei Abschluss von Verträgen zu erwarten waren. Wer aktuell noch Verträge schließt, der müsse Unwägbarkeiten definitiv in Rechnung stellen.

Stundung als Krisenmaßnahme

Zu den ersten Krisenmaßnahmen der russischen Regierung für Unternehmen gehört die  Stundung aller Steuern außer Umsatzsteuern für sechs Monate, die Stundung von Bankdarlehen für sechs Monate sowie ein Moratorium für Konkursanträge. Zudem wurde ein staatlicher Unterstützungsfonds für die Unternehmen aufgelegt. Eine sehr positive Einschätzung gaben die Experten der Schneider-Group bezüglich der Chancen für ausländische Unternehmen ab, an diesem Antikrisenfonds zu partizipieren. Auf den ersten veröffentlichten Listen seien bereits namhafte westliche Unternehmen enthalten. Die russische Regierung werde alles daransetzen, die Einschränkung des öffentlichen Lebens bis zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges am 9. Mai wieder zurückzufahren, so die Einschätzung von Ulf Schneider. Aktuell werde in Moskau ein Ausweissystem mit einem QR-Code eingeführt, das eine digitale Kontrolle der Bewegungsprofile der Bevölkerung ermögliche.

Abschließend berichtete Per Brodersen, Geschäftsführer der AG Agrarwirtschaft beim OAOEV über aktuelle Entwicklungen im russischen Agrarsektor. Als Reaktion auf die Corona-Krise seien Exportbeschränkungen für Grundnahrungsmittel wie Roggen, Graupen und weitere Getreidemehlsorten erlassen worden. Dies könne negative Folgen für die Liquidität von Unternehmen haben und damit auch die Neuanschaffung von Landtechnik erschweren. Zudem könnte auch die russische Landwirtschaft von einem Mangel an Erntehelfern durch die weitgehenden Grenzschließungen betroffen sein. Debatten über eine Aufweichung des gegen die EU bestehenden Lebensmittelembargos seien noch nicht zu beobachten. Hier zeichneten sich aktuell daher keine neuen Absatzchancen ab. Positiv sei aber, dass in Gesprächen mit der russischen Seite eine geplante restriktive Saatgutregelung gekippt werden konnte. Hier könnten westliche Anbieter mit ihren Produkten weiter auf dem russischen Markt präsent sein.

Andreas Metz,
Ost-Ausschuss – Osteuropaverein der Deutschen Wirtschaft

Ansprechpartner

Dr. Christiane Schuchart
Regionaldirektorin Russland
Tel.: 030 206167-123
C.Schuchart@bdi.eu

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