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Zeit für Alternativen

21.11.2016
Einen nüchternen Blick auf die Russland-Sanktionen fordert Wolfgang Büchele
 
Über zwei Jahre bestehen die gegenseitigen Wirtschaftssanktionen zwischen der EU und Russland. Aktuell laufen die EU-Sanktionen noch bis Ende Januar 2017. In den nächsten Wochen wird eine Debatte über Verlängerung, Lockerung oder Verschärfung zu führen sein, diesmal unter dem Eindruck des Amtswechsels im Weißen Haus. Höchste Zeit für einen nüchternen Blick auf die bisherigen Sanktionsfolgen.
 
Interne Schätzungen der EU-Kommission ließen für 2014 und 2015 Belastungen in Höhe von insgesamt 90 Milliarden Euro für die EU-Wirtschaft erwarten. Die russische Regierung spricht von jährlich 40 Milliarden US-Dollar an eigenen, sanktionsbedingten Verlusten. Die Gesamtrechnung bleibt aber kompliziert und umstritten, weil nicht allein der stark gesunkene Handel zwischen der EU und Russland betrachtet werden kann. Wie lassen sich beispielsweise Imageschäden, eingetrübte Erwartungen und verlorenes Vertrauen in Zahlen ausdrücken?
 
Experten gehen davon aus, dass etwa 20 Prozent des russischen Wirtschaftsrückgangs auf Sanktionen zurückzuführen sind. 80 Prozent gehen auf andere Faktoren zurück: russische Einnahmeverluste durch den gesunkenen Ölpreis, schwacher Rubel und strukturelle Probleme.
 
Innerhalb der EU sind, gemessen an ihrer Wirtschaftskraft, am stärksten die baltischen Staaten und Polen betroffen. Auch für die deutsche Wirtschaft sind die Folgen signifikant: Forscher der Universitäten Bremen und Leipzig haben für 2014 und 2015 einen Gesamtrückgang der deutschen Produktion durch die Sanktionen von 13,5 Milliarden Euro ermittelt - das entspricht rechnerisch dem Verlust von 60 000 Arbeitsplätzen.
 
Ihre Wirkung entfalten die Sanktionen nicht allein durch das Verbot von Handelsgeschäften. Gravierend wirken sich besonders die eingeschränkten Finanzierungsmöglichkeiten für russische Mittelständler, stornierte Investitionen, Ausfälle bei Dienstleistungstransfers oder abgesagte (Urlaubs)Reisen aus. Unlängst berichtete sogar die deutsche Modebranche über Umsatzeinbrüche von über 30 Prozent - die wichtigen russischen Kundinnen bleiben immer öfter aus.

De facto kann sicherlich festgehalten werden, dass die Gesamtlast der Wirtschaftssanktionen für die europäische Wirtschaft - inklusive Russland - mittlerweile im dreistelligen Milliardenbereich liegt. Selbst Nachbarländer Russlands wie Belarus und Kasachstan, die stark von der russischen Konjunktur abhängen, sind betroffen.
 
Nach diesem Blick auf die Kostenseite der Wirtschaftssanktionen stellt sich die Frage nach ihrem Nutzen. In der Ost-Ukraine bleibt die Lage leider weiter fragil. Der wacklige Stillstand der Front kam erst durch das große Engagement der Bundesregierung im Rahmen des Minsk-Friedensprozesses zustande - ein halbes Jahr nach Einführung der Wirtschaftssanktionen.

Aus Sicht der Ukrainer sind die Sanktionen ein wichtiges Symbol dafür, dass der Westen an ihrer Seite gegen Russland steht. Gleichzeitig behindern sie aber die wirtschaftliche Erholung der Ukraine. Ein Umfeld, das durch Wirtschaftssanktionen geprägt ist, bleibt für Investoren problematisch. Und der Ukraine geht es nicht dadurch besser, dass es einem ostdeutschen Anlagenbauer schlechter geht. Mit zusätzlichen finanziellen Mitteln wäre der Ukraine besser geholfen.

In den 1990er-Jahren wurde das Engagement deutscher Unternehmen in Russland als Beitrag zum Aufbau einer Marktwirtschaft begrüßt. Ähnlich ist es jetzt in der Ukraine, in Kuba und in Iran. Was aber passiert, wenn sich auch dort die politische Lage ändert und Sanktionen wieder en vogue werden? Selbst im Zusammenhang mit EU-Ländern wie Polen und Ungarn wurden Sanktionen gefordert. Was gewinnen und verlieren wir, wenn Sanktionen zu einem Allheilmittel der Politik werden? Welches Land lässt sich auf ausländische Investoren ein, wenn Wirtschaftsbeziehungen politisch instrumentalisiert werden können?

Selbst russische Oppositionelle wie Chodorkowskij und Nemzowa sehen allgemeine Wirtschaftssanktionen gegen Russland kritisch, weil sie eher die Falschen träfen und bewirkten, dass sich die Russen hinter ihrer Regierung versammeln. Auch Vertreter des US-State-Departments sagen im vertraulichen Gespräch, dass Sanktionen gegen verantwortliche Personen wirksamer sind: Sie seien zielgenauer und die Umgehungsmöglichkeiten kleiner. Vor zwei Jahren mögen Wirtschaftssanktionen für die Politik "alternativlos" erschienen sein. Inzwischen ist die Zeit reif, das zu hinterfragen. Es wäre gut, wenn das Primat der Politik dazu genutzt würde, politische Krisen primär mit politischen Mitteln zu lösen.
 
Handelsblatt, 21.11.2016, S. 56
 

 

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